Titel: Panem X – Das Lied von Vogel und Schlange
Autor: Suzanne Collins
Verlag: Oetinger
Seitenzahl: 604
Genre: Young Adult, Dystopie
Klappentext
„Es sind die 10. Hungerspiele.
Er ist ihr Mentor, sie sein Tribut.
Verbunden in einem aussichtslosen Kampf.
Folgt er den Regeln des Spiels?
Oder seinem Wunsch, zu überleben?“
Langrezi
[Die Rezi ist spoilerfrei! Abgesehen von einem Abschnitt weiter unten, der aber auch entsprechend gekennzeichnet ist!]
Rahmenhandlung
Die Geschichte von „Panem X“ – dem vierten Buch der Panem-Reihe – setzt 64 Jahre vor dem ersten Abenteuer rund um Katniss an. Panem, das heißt sowohl das Kapitol als auch die Distrikte, befindet sich in der Nachkriegsphase. Denn zehn Jahre zuvor versuchten die Rebellen aus eben diesen Distrikten, das Kapitol zu besiegen und ein gerechteres System zu etablieren. Die Rahmenhandlung ist auch aus den später spielenden Panem-Bücher bekannt, hier jedoch viel präsenter. Alle Figuren können sich noch an den Krieg erinnern, viele haben Angehörige und/oder Freunde verloren, auch wirtschaftlich hat der Konflikt eine Menge Nachteile und nur für wenige Einzelpersonen Vorteile gebracht.
Um die Distrikte daran zu erinnern, wer der Boss ist, hat das Kapitol die Hungerspiele eingeführt – eine zu dem Zeitpunkt der Geschichte von „Panem X“ relativ neue (sich eben in der zehnten Auflage befindlichen), im Vergleich zu den späteren Versionen aber nicht minder blutige Angelegenheit, die sich allerdings kaum jemand anschaut.
Inhalt
Wir begleiten wir Coriolanus Snow. Bei dem Namen wird es den meisten Lesern der früheren „Panem“-Bücher klingeln. Er begegnet uns später schließlich auch noch zu Genüge – als skrupelloser Präsident Panems. Dieses Buch erzählt nun seine Geschichte.
Coriolanus ist ein junger Mann im letzten Jahr der Schule. Er kämpft mit den Nachkriegswirren und dem Verlust beider Eltern; er lebt mit seiner Cousine und seiner immer verwirrter werdenden Oma (hier wurde der Titel „Großmadame“ gewählt, gefiel mir gut!) zwar noch im Penthouse der Familie, doch das Geld schwindet, gerade Coriolanus und seine Cousine kämpfen längst mit fast allen Mitteln ums Überleben – und ersterer auch noch verstärkt um den Ruf seiner Familie.
Um die Hungerspiele etwas interessanter zu machen, erhalten die 24 besten Schüler der Akademie die Gelegenheit, je einen Tribut zu coachen. Darüber können sie sich profilieren, ihre Abschlussnote verbessern und die Chancen auf einen Preis als einer der besten ihres Jahrgangs erhöhen.
Coriolanus gehört zu diesem illustren Kreis, ist aber gelinde geschockt, als er vorab den weiblichen Tribut aus Distrikt 12 bekommt. Die armen Bergleute dort haben keine große Chance zu gewinnen, sterben meistens früh und so ist die Möglichkeit, als Mentor überhaupt nur aufzufallen, auch entsprechend gering. Doch als Coriolanus sieht, welche junge Frau den Distrikt in diesem Jahr vertritt, beginnt er, seine Meinung zu ändern. Denn Lucy Gray ist definitiv etwas Besonderes.
Ich breche an dieser Stelle mit der Inhaltsangabe ab, denn ich möchte nicht spoilern. Ich kann aber sagen, dass die Hungerspiele zwar ein wichtiger Teil der Geschichte sind, aber längst nicht so großen Raum einnehmen, wie in den ersten beiden Katniss-Teilen. Aber nicht nur das macht das Buch zu einem eigenständigen Werk.
Setting
Die ganze Ausgangslage ist zwar ähnlich zu den später spielenden Werken, aber in einem Nachkriegskapitol, in dem der Schein das einzige ist, das vielen Menschen noch geblieben ist, doch völlig anders, als in einem fast schon naturgegeben armen Distrikt, wie es 64 Jahre später in Distrikt 12 der Fall ist.
Das wird übrigens auch später noch deutlich, denn auch besagte spätere Heimat von Katniss kommt etwas intensiver vor, Unterschiede sind schnell deutlich, ebenso wie Gemeinsamkeiten zur späteren Zeit.
Charaktere
Coriolanus Snow wird mal ein Riesenarschloch. Ich denke, so viel kann man mit Blick auf die Katniss-Bücher vorab sagen. Umso spannender ist es, nicht nur seine Beweggründe zu sehen, sondern auch seine Entwicklung. Eigentlich fängt er als relativ guter Kerl an, der sich um seine Familie sorgt und die Bürde bei sich sieht, dem großen Namen Snow gerecht zu werden. Er ist nicht zu allen nett, schaut, dass er seinen Vorteil auch durchbringen kann und ist zielstrebig, aber er ist die meiste Zeit kein Monster. Die Entwicklung geschieht langsam, Stück für Stück, ohne, dass sie dem Leser zu sehr ins Gesicht gedrückt wird. Gleichzeitig werden Ansätze für seine spätere Charakterzeichnung geschaffen; die Einblicke in Snows Innenleben, die aus den Katniss-Büchern bekannt sind, werden nie beschädigt, an einigen Stellen sogar unterstützt. Weiter ermöglichen die Einblicke in seine Gedankenwelt, einige Handlungen – zumindest in Ansätzen – nachzuvollziehen. Oder zumindest eine Erklärung dafür zu finden.
Coriolanus‘ Problem ist eigentlich in erster Linie, dass er an einigen Gabelungen, an denen er sich entscheidet, ob er das Richtige oder das Beste für sich selbst tun sollte, falsch abbiegt. Aber wer kann es ihm im Grundsatz vorwerfen?
Lucy Gray beginnt als eigenständige junge Frau, die irgendwie anders ist, gerne singt und ihren eigenen Kopf hat. Ich habe mich zu Beginn sehr an Katniss erinnert gefühlt, doch das vergeht. Sie unterscheidet sich im Laufe der Geschichte zunehmend stärker von ihr. So liegt Lucy Gray zum Beispiel der Kampf noch weniger als besagter Heldin aus späteren Büchern. Dafür besteht ihre Welt noch stärker aus dem Gesang und den Geschichten, die damit einhergehen. Dadurch, dass sie kein Ass mit Pfeil und Bogen oder einer anderen Waffe ist, hatte ich das Gefühl, dass sie auch noch kreativer zu Werke geht – in der Arena und danach. Wer jetzt an dieser Stelle eine Lovestory zwischen den beiden Hauptfiguren befürchtet (ich sage bewusst „befürchtet“), den kann ich beruhigen: Alles, was zwischen den beiden vor sich geht, ist klar und schön. Naja, sagen wir das meiste.
Und warum schreibe ich bei Lucy Gray immer den kompletten Namen, bei Coriolanus aber nicht? Weil Lucy Gray ist Vorname IST. Ich sag‘ ja: Sie ist an einigen Stellen schon eindeutig anders.
Aber meine Güte, ist Dr. Gaul eine Bitch! Sie ist als Erste Spielmacherin tätig, hat aber bedeutend mehr Befugnisse als die, die wir aus den Katniss-Teilen kennen. Und die nutzt sie mit einer Menschenverachtung aus, es ist Wahnsinn. Also man kann sagen, sie ist perfekt für den Job gemacht. Sie „schult“ Coriolanus immer wieder, stellt ihm ethische Fragen und lässt ihn unter anderem ein Konzept ausarbeiten, wie die Hungerspiele interessanter für die breite Masse werden können. Unter anderem entsteht so die Idee, dass Menschen auf die Tribute wetten und sie ihnen Essen zukommen lassen können. Sie ist also definitiv Wegbereiterin für Coriolanus. Manchmal fand ich es fast schon too much, was sie alles kontrolliert, weiß und bestimmt, aber es war immerhin etwas anderes, dass nicht der Präsident, der hier wirklich keine große Rolle spielt, der Antagonist ist. Wobei ihr der Begriff auch nicht ganz gerecht wird. Wie gesagt: Sie ist halt eine Bitch, aber macht nur nebenbei Coriolanus das Leben schwer.
Sejanus ist Coriolanus…Freund? Anhängsel? Es ist schwer zu sagen, denn eigentlich mag Coriolanus ihn nicht besonders. Sejanus kommt aus Distrikt 2, seine Familie gehört durch das Waffenimperium des Vaters zu den wenigen Gewinnern des Krieges. Sie hat sich in das Kapitol eingekauft, aber weder Sejanus noch seine Mutter werden dort so richtig glücklich; sie vermissen ihre Heimat, Freunde und Familie haben den Kontakt abgebrochen, und Sejanus wurde in jüngeren Jahren von den meisten Mitschülern gehänselt. Coriolanus hat ihn lediglich ignoriert, was Sejanus ihm hoch anrechnet. Da auch er ein Mentor ist, und durch verschiedene Umstände, haben die beiden mehr miteinander zu tun, als Coriolanus lieb ist. Ihm geht der Junge aus dem Distrikt meistens stark auf die Nerven, und er will höchstens sein Geld und den Einfluss von Sejanus‘ Vater nutzen, während Sejanus in ihm seinen einzigen Freund sieht.
Die Verbindung wird stärker, auch aus Coriolanus‘ Sicht, das Problem ist nur: Sejanus hat Ideale, und für die tritt er ein, auch wenn es ihm massive Nachteile bringt. Ein völlig anderer Charakter als Coriolanus also, hinzu kommt, dass letzterer dadurch immer wieder in Gefahr gerät.
Sejanus ist manchmal tatsächlich ein bisschen anstrengend aufgrund dieser „Mit dem Kopf durch die Wand, koste es, was es wolle“-Mentalität, aber mir tat er auch immer wieder leid. Er ist ein Außenseiter, der einfach das Richtige tun will, und niemand (inklusive Coriolanus) versteht das.
Gleichzeitig gab es mit Sejanus‘ Mutter, die der nur „Ma“ nennt, auch die erste richtig widerliche Szene mit Coriolanus, wie ich fand. Die Frau ist einfach herzensgut, kümmert sich um ihren Sohn, ist wie gesagt selbst nicht glücklich im Kapitol und tut alles, um Coriolanus dafür zu danken, dass er Sejanus ein Freund ist. Das meiste ist zum Zeitpunkt dieser Szene noch nicht passiert, aber dass die Frau supernett ist, wurde schon klar. Und was denkt Coriolanus?
„Als Nächster erschien Sejanus, wieder in einem nagelneuen Anzug, an seinem Arm eine zerzauste kleine Frau in einem teuren geblümten Kleid. Doch es half nichts. Genauso gut hätte man eine Runkelrübe in ein Ballkleid stecken können, und sie hätte immer noch darum gebettelt, zermanscht zu werden. Das konnte nur Ma sein.“
S. 209/210
So eine Einschätzung macht jeden Protagonisten unsympathisch. Bei Coriolanus passt es deshalb einfach perfekt mit Blick auf die Zukunft. Und trotz dieser Einlassung (er ist dann sehr höflich zu ihr) kann ich einem anderen Kommentar zum Buch, den ich bei Instagram gelesen habe, nur zustimmen: Es fällt schwer, Snow nicht zu mögen. Zumindest die meiste Zeit über.
Stil
Die Sprache war ein bisschen gewöhnungsbedürftig. Damit meine ich nicht die Snow-Perspektive oder die Tatsache, dass die Geschichte im Präteritum geschrieben ist. Es geht mir darum, dass es teilweise ein wenig umgangssprachlich geschrieben ist, zumindest in der deutschen Version. Da gibt es viel „glaub“ und „hab“, da werden Leute „angequatscht“ (S. 265) und ähnliches. Es ist vielleicht der modernen Zeit geschuldet, mich hat es ein wenig gestört. Ansonsten ist der Stil flüssig, allerdings ist Suzanne Collins sehr darauf bedacht, kaum ein (noch so unwichtiges) Detail auszulassen. Das wird im dritten Teil des Buches besonders schlimm, wenn die Handlungen jedes Wochentages, die überhaupt keine Rolle spielen, zumindest kurz mitgeteilt. Ich denke, man hätte das Buch kürzer fassen können, wenn man sich ein wenig mehr auf das Wesentliche beschränkt hätte. Aber andere, spannendere Dinge kommen dann auch sehr unvermittelt und werden auch straff durchgezogen. Das ist nicht unbedingt schlecht, es hilft, die Spannung zu halten, aber daraus resultiert auch, dass man auf keinen Fall größere Passagen überspringen sollte.
Die Hungerspiele
Was ich wahnsinnig spannend fand, war die Entwicklung der Hungerspiele. Die zehnte Auflage ist ganz anders als die späteren Veranstaltungen. Die Arena ist jedes Jahr dieselbe, die Tribute werden wie Kriegsgefangene behandelt, sie kriegen vom Kapitol vor den Kämpfen nicht mal etwas zu essen und werden im Zoo untergebracht, wo die Leute sie sich anschauen können. Das Mentorenprogramm macht gerade, wie gesagt, seinen ersten Schritt, und Mutationen in der Arena gab es bis dato auch noch nicht. An den Spielen merkt man im Buch am besten, welche Zeit zwischen den Geschichten liegt. Ich fand es wirklich interessant.
Lieder
Das Buch besteht grob aus drei Teilen. Vor allem im letzten kommen wahnsinnig viele Lieder vor. Ich mochte es sehr gerne, die Balladen haben gut gepasst beziehungsweise haben Einblicke vor allem in Lucy Grays Seelenleben gegeben, die ich sehr interessant fand. Auch Coriolanus‘ Umgang damit war sehr aufschlussreich. Und vielleicht habe ich sie im Kopf auch gesungen.
Anspielungen
Es gibt viele Bezüge zu Katniss‘ Zeit. Das sind große Sachen, wie eben der Distrikt 12, mittlere Sachen wie zum Beispiel der Ursprung des Lieds vom Henkersbaum, das Katniss später singt. Und auch kleine Dinge wie der neue Moderator der Hungerspiele, der eigentlich das Wetter beim Nachrichtenkanal moderiert: ein Flickerman. Auch die Familie Crane kommt vor, es sind diese Sachen, die mich gefreut haben. Ich mag solche Anspielungen, wobei es nicht zu viel werden darf. Mit der Rolle, die Distrikt 12 in der Geschichte trägt, hatte ich genau davor Angst, doch es ist wirklich gut aufgefangen worden: Es gibt keinen Overkill diesbezüglich. Ach und die Spottölpel haben auch ihren Auftritt.
So, nun folgt der einzige echte Spoiler in dieser Rezi. Wenn ihr den nicht lesen wollt, springt einfach zum nächsten Kapitel. Auch wenn das den Namen „Das Ende“ trägt, habe ich versucht, es vage genug zu halten. Wenn ihr trotzdem Sorge habt: Geht einfach zum Fazit, so viel verpasst ihr nicht mehr.
Suzanne Collins hat zwei direkte Katniss-Anspielungen eingefügt. Ich zitiere das einmal. Zum Verständnis: Lucy Gray ist bei ihrer Familie und chillt mit denen und Coriolanus.
„Clark Carmine brachte Lucy Gray eine Pflanze, die er am See ausgegraben hatte, mit spitzen Bättern und kleinen weißen Blüten. ‚Hey, du hast Katniss gefunden. Gut gemacht, C.C.‘ Coriolanus fragte sich, ob es eine Zierpflanze war, wie die Rosen der Großmadame, doch sie untersuchte sofort die Wurzeln, an denen kleine Knollen hingen. ‚Noch ein bisschen zu früh.‘
S. 509/510
‚Ja‘, sagte Clark Carmine.
‚Wofür?‘, fragte Coriolanus.
‚Zum Essen. In ein paar Wochen werden daraus ganz anständige Kartoffeln, die man rösten kann‘, sagte Lucy Gray. ‚Manche Leute nennen sie Sumpfkartoffeln, aber mir gefällt Katniss besser. Das klingt so schön.‘“
Wie toll ist bitte diese Anspielung? Es mag ein bisschen überdeutlich wirken, aber ich finde es ganz großartig gemacht, dass sie Coriolanus Snow erklärt, dass es noch ein wenig zu früh für Katniss ist!
Dann, später, sind Coriolanus und Lucy Gray alleine unterwegs, in der Wildnis:
„‚Ich glaub, ich grabe ein paar Katniss aus, wo das Feuer schon mal brennt. Am See gibt es eine gute Stelle.‘
S. 581
‚Ich dachte, sie sind noch nicht reif‘, sagte Coriolanus.
‚Zwei Wochen machen eine Menge aus‘, sagte sie.“
Ja, zwei Wochen machen bei Katniss wirklich eine Menge aus. Fast alles sogar.
Ein großes Herz für die beiden Szenen.
Das Ende
Das Ende war mir ein bisschen zu viel Hauruck. Während fast alles andere, wie oben erwähnt, sehr ausführlich beschrieben wird, zieht das Tempo auf den letzten paar Seiten deutlich an, für mich ein bisschen zu sehr. Inhaltlich kann ich mit der Entwicklung gut leben, doch es gibt offene Fragen, die mich stark triggern. Das Buch ist zwar als stand alone gedacht, aber wer weiß – vielleicht kommt noch mal etwas nach. Es gibt definitiv noch viel zu erzählen, das hat man gemerkt.
Fazit
Auch, wenn ich es nicht wollte: Ich bin mit großen Erwartungen an das Buch gegangen, die „Panem“-Reihe gehört zu meinen Lieblingsbücherserien. Und ich muss sagen, die hohen Erwartungen wurden eigentlich erfüllt. Wir haben hier ein starkes Buch mit spannender Geschichte, das sich sein eigenes Setting gesucht hat und auch Fragen behandelt, die bisher in dieser Reihe noch nicht aufgegriffen wurden, obwohl man sie definitiv stellen kann. Die Geschichte steht wunderbar ohne die Katniss-Bücher, die Charaktere ebenso. Die kleinen Kritikpunkte von oben machen den Kohl da nicht wirklich fett. 4,5 von 5 Sternen.