Hologrammatica

Titel: Hologrammatica
Autor: Tom Hillenbrand
Verlag: KiWi
Erstveröffentlichung: 15. Februar 2018
Seitenzahl: 552

Genre: Thriller, Science-Fiction

Klappentext

Weißt du, wer dein Gegenüber wirklich ist?

Paris im Jahr 2088: Als die Computerexpertin Juliette Perotte spurlos verschwindet, wendet sich ihre Mutter an den Privatermittler Galahad Singh. Stand die Vermisste vor einer Entdeckung, welche die Menschheit radikal verändern würde? Irgendjemand will Juliettes Geheimnis bewahren – um jeden Preis. Je länger Singh recherchiert, desto mehr bezweifelt er, dass sein Gegner ein Mensch ist…

Langrezi

Das Werk gehört zu den Büchern, die mir meine Tante geschenkt hat. Ich vertraue ihrem Buchgeschmack sehr, der Klappentext bei der Geschichte klingt auch wirklich nicht schlecht – ob ich es mir selbst gekauft hätte, weiß ich zwar trotzdem nicht. Aber dafür sind Geschenke ja unter anderem da. Ich finde, der Klappentext lässt viele Möglichkeiten offen. Es kann gut werden, muss es aber nicht.

Plot

Der Klappentext fasst die Geschichte im Prinzip ganz gut zusammen. Der Protagonist ist Singh, ein Londoner Quästor (so heißen Privatdetektive da), der den zunächst relativ alltäglich erscheinenden Auftrag erhält, eine Programmiererin wiederzufinden. Doch mit der Zeit bemerkt er nicht nur Verwicklungen zu anderen Fällen, die er verfolgt, sondern auch, dass die Tragweite des Ganzen viel größer ist, als zunächst gedacht. Und ein bisschen Romance gibt es ebenfalls noch. So weit, so gut. Was mich aber gerade in der ersten Hälfte wirklich überzeugt hat, ist die Welt, in der sich Singh bewegt.

Worldbuilding

Das Setting ist einfach wahnsinnig interessant, weil auch sehr gut recherchiert beziehungsweise wirklich gut durchdacht ist. Es spielt, wie erwähnt, im Jahr 2088: Die Klimaerwärmung hat in den 2070ern ihren Höhepunkt erreicht. In Paris sind es da im April schon mal angenehme 27 Grad, weiter südlich ist Leben mitunter kaum noch möglich. Australien gilt als völlig verwaist. Deshalb gab es in den vorangegangenen Jahrzehnten eine große Siedlungswelle in Richtung Sibirien. Wobei man dazu sagen muss, dass die Menschheit durch eine Pandemie (ein großartiges Thema in diesen Tagen, ich weiß) massiv verkleinert wurde. Das Virus hat allerdings getötet, sondern Millionen von Frauen unfruchtbar gemacht. Das und eine neue Technologie zur Absorption von Kohlenstoffdioxid haben zur klimatischen Wende geführt. Zahlreiche Küstengebiete und Inseln sind trotzdem untergegangen.

Außerdem haben sich die Staaten der Erde in Föderativen zusammengetan. Was unter anderem dazu führt, dass in Miami, Teil der Federativo del Sur, in der Hauptsache Spanisch gesprochen wird. Überhaupt scheint von den USA nicht mehr so viel übrig zu sein, es wird angedeutet, dass Kalifornien sich separiert hat. Dafür ist Russland deutlich wichtiger. Das Gebiet hat eben auch noch viele Orte, an denen es sich temperaturtechnisch ganz gut leben lässt.

Auch im Weltall sind die Menschen unterwegs: Mittels Spacelift geht es ins All, Rohstoffe werden aus Asteroiden abgebaut. Besonders spannend fand ich dabei, dass der Spacelift in der Realität laut einigen Forschern tatsächlich eine Möglichkeit ist, wie Menschen eines Tages ins Weltall reisen könnten. Da es in der Geschichte allerdings nur noch ein funktionierendes Exemplar gibt, ist der Andrang entsprechend groß. Eine ganze Industrie hat sich um den Standort New Albion (errichtet auf den abgesoffenen Malediven) errichtet – mit ziemlich viel Tristesse; jeder versucht, sein Geld zu machen, und die meisten dort Lebenden wollen eigentlich woanders hin. Ad aspera ad astra mal anders.

Aber es sind auch viele kleine Details, die überzeugen. Lacrosse scheint die für die Menschen (zumindest in London) interessanteste Sportart zu sein, die Popmusik wird von Computern generiert und selbstfahrende Autos sind so unfassbar antiquiert, dass damit so gut wie niemand mehr was anfangen, geschweige denn selbst fahren kann. Es ist wirklich stimmig.

Ein ganz großer Punkt ist aber die Holografie-Technologie.

Die Holografie

Der Titel des Buches deutet es ja schon an: Holografie ist ein wichtiges Thema. Der Begriff Hologrammatica beschreibt dabei alles, was damit zu tun hat (Grammatik wird hier als Synonym für Regelwerk oder Systematik verwendet). Es gibt mehrere Anbieter für das sogenannte Holonet, es hat ungefähr die gleiche Abdeckung wie heutzutage das Handynetz. Das hat zur Folge, dass nicht nur alle Werbung und Straßenschilder holografiert sind, sondern sich auch kaum noch jemand die Mühe macht, Häuser, Straßen oder auch sich selbst besonders herauszuputzen. Es wird einfach das entsprechende Bild über die Realität gelegt.

Singh findet im Verlauf der Geschichte eine Brille, mit der er Holografien auf allen Leveln ausblenden kann (das Ganze ist gestaffelt, weil zum Beispiel auch die Sicherheitsbehörden Holografie verwenden, die natürlich nicht so leicht durchdrungen werden soll). Die Sicht, die Singh mit der Brille auf die Welt hat, ist äußerst deprimierend. Alles ist grau, trist, verfallen. Daran zieht sich auch immer wieder die Frage auf, was eigentlich Realität ist. Das, was unter den generierten Bildern liegt, oder das, was alle Menschen Tag für Tag sehen, die Welt, in der sie sich bewegen. Die Gedankengänge sind aber nicht besonders aufdringlich; es muss niemand Angst vor einer größeren philosophischen Exkursion haben. Das Gleiche gilt übrigens für das Thema Künstliche Intelligenz (KI).

Quants und Cogits

Ein ganz wesentlicher Teil der Geschichte ist aber eine zu diesem Zeitpunkt noch recht neue Technologie: Das Gehirn kann digitalisiert und in Klone, sogenannte Gefäße, transferiert werden. Menschen, die ihren Verstand haben entsprechend erfassen lassen, werden Quants genannt, die Cogits sind die kleinen Geräte, in die die Daten übertragen werden.

Die Technologie bietet sich natürlich vor allem für gefährliche Berufe an, wird aber von Reichen auch gerne für sexuelle Experimente genutzt. Wer das Geld hat, kann sich praktisch jedes Gefäß herstellen lassen.

Natürlich gibt es bei der Technologie auch Grenzen. Nach rund drei Wochen muss der Verstand wieder in den Stammkörper, sonst gibt es einen Braincrash. Auch können die Daten nicht ausgelesen, sondern nur von Körper A in Körper B transferiert oder gespeichert werden. Auch sind Sicherheitskopien möglich. Vieles ist aber eben noch unklar an der Funktionsweise des menschlichen Gehirns.

Charaktere

(Ab hier kommen Spoiler. Wenn ihr die nicht lesen wollt, springt zum Fazit!)

Das war jetzt eine längere Ausführung, ist aber entscheidend für die Geschichte und auch für die Charaktere nicht uninteressant. Da haben wir den Protagonisten, Galahad Singh. Er ist kein Quant und auch etwas zurückhaltend, was diese Technologie angeht. Insgesamt ist er sehr direkt in seiner Sprache („Ich ahne bereits, dass es mir schwerfallen wird, die Sache auf der Ebene geschäftsmäßigen Gefickes zu halten.“, S.136; „Ich hatte vorhin die wohlüberlegte Einschätzung geäußert, wir seien gefickt. […] Petahypertief in alle Öffnungen gefickt.“, S. 432), ist impulsiv, nicht immer ganz logisch und denkt gar nicht mal so wenig mit seinem Schwanz. Insgesamt ist er ein ziemlich sympathischer Charakter, eben durch diese Schwächen und Fehler. Ich mochte ihn gerne. Auch wenn er nicht immer der Schnellste war, aber dazu später mehr.

Im Zuge seiner Recherchen lernt er Francesca kennen, eine Quant. Nachdem sie in einen männlichen Körper geschlüpft ist – Francesco – beginnt Galahad nicht nur, mit „ihm“ zu vögeln, sondern auch, sich zu verlieben. Ganz spannend dabei: die Frage, ob es sich bei Fran (der offizielle Name) nun eigentlich um einen Mann oder eine Frau handelt. Diversität mal anders. Wer allerdings dabei tiefe philosophische Abhandlungen oder große Hymnen auf die Abschaffung von Geschlechtern erwartet, wird enttäuscht – das Buch bleibt sich da treu und verliert sich nicht in derlei Themen.

Ansonsten ist Fran relativ blass, was auch an der lange sehr geheimnisvollen Aura liegt, die ihn (er tritt meistens als Mann auf) umgibt. Er ist als Informationslieferant wichtig, ansonsten könnte es auch jeder andere sein, der da auftritt.

Auch Juliette Perrotte tritt auf. Ich hatte Probleme, die Bilder, die von ihr gezeichnet wurden (Galahads Recherche und die direkte Erzählung von ihren Taten) unter einen Hut zu bringen. Es wirkt eher, als wurden zwei verschiedene Charaktere gezeichnet, die dann zusammengebracht werden mussten. Die Juliette aus der direkten Erzählung war ganz cool, wusste sich zu helfen und war echt nicht dumm. Die aus der Recherche war sehr emotional gelenkt, ziemlich crazy drauf und irgendwie recht naiv. Irgendwie waren die Schnittstellen aus meiner Sicht einfach nicht sauber.

Stil

Da es das schon mit den wichtigen Personen war, mache ich einfach mal mit dem Stil weiter. Die Erzählperspektive ergibt sich fast von selbst: Als Ich-Erzähler kann man wunderbar alles Neue reinbringen, was diese Welt im Gegensatz zur Gegenwart zu bieten hat. Meistens funktioniert das ganz gut, an ein, zwei Stellen wirkte es dann doch etwas gestellt. Ein Beispiel: „Leopardette ist Ende fünfzig, was ja heutzutage kein Alter mehr ist.“ (S.244) Warum sollte jemand so etwas sagen? Wenn ich jemanden mit Mitte 20 sehe, denke ich auch nur äußerst selten „Man, vor 100 Jahren hättest du schon zig Kinder zu versorgen.“

Dazu kommt, dass Galahad eben, wie gesagt, nicht immer besonders auf zack ist, sodass ihm – beziehungsweise dem Leser – dann auch einige Dinge nochmal genauer erklärt werden. Oder man will der Story nicht vorgreifen. So kommt es, dass sehr offensichtliche Zusammenhänge zwischen Fällen, etwa der Angriff mit pechschwarzen Schwertern, erst sehr spät als solche erkannt werden. Aber insgesamt hatte ich nicht das Gefühl, dass die Dialoge oder auch die Gedanken Galahads besonders konstruiert sind.

Die Teile von Juliette Perrotte werden aus der dritten Person erzählt; eine schöne Abwechslung, die dann auch zur sofortigen Erkennung der Passagen als Juliettes Kapitel beitragen.

Ein schöner Aspekt, den man meiner Meinung nach nur bei Büchern in ihrer Originalsprache findet: schöne Wörter und Satzkonstruktionen. Bei dem Werk tauchen so Schätze wie „Kladderadatsch“ (S. 354) oder „Kennte“ (S. 415) als Konjunktiv II auf. Als Sprachliebhaber hat es mir sehr gefallen.

Schwächen

Natürlich ist nicht alles Friede, Freude, Eierkuchen. Neben den kleinen, schon genannten Schwächen kommt dazu, dass gerade zum Ende hin relativ viele Aspekte gemischt werden. Neben der Sache mit den KI’s kommen Hologramme, die tatsächlich Menschen verletzen können und eine unbekannte Größe, die außerirdisch sein könnte. Es wird letztendlich ganz gut gelöst, aber zwischendurch wusste ich nicht genau, was ich damit anfangen sollte.

Dazu kommt, dass es am Ende zwar ein kleines Verzeichnis an Begriffen gibt, die man nochmal nachschlagen kann. Die meisten, bei denen sich tatsächlich ein zweiter Blick lohnen würde, waren aber nicht aufgeführt. Dafür findet man viele offensichtliche Dinge aufgeführt. Also: aufpassen beim Lesen!

Fazit

Die Geschichte ist gerade im ersten Teil in Ordnung, da reißt es aber die interessante Welt heraus. In der zweiten Hälfte etwa, wenn man die Lebensumstände weitgehend kennt, wechseln diese beiden Aspekte ganz gut die Positionen. Es kam nie Langeweile auf, man muss aber natürlich auch Lust auf diesen möglichen Ausblick in die Zukunft und eine Kriminalgeschichte haben. Dann kann das Buch aber durchaus schöne Stunden bringen. 4 von 5 Sternen.

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