Titel: Es
Autor: Stephen King
Verlag: Wilhelm Heyne Verlag (in meiner Version, vorher Edition Phantasia)
Seitenzahl: 860
Erstveröffentlichung: 15. September 1986
Genre: Horror
Klappentext
In Derry, Maine, schlummert das Böse in der Kanalisation: Alle 28 Jahre wacht es auf und muss fressen. Jetzt taucht »Es« wieder empor. Sieben Freunde entschließen sich, dem Grauen entgegenzutreten und ein Ende zu setzen.
Langrezi
Stephen King entführt den Leser in „Es“ wieder einmal in das fiktive Städtchen Derry. Dieses Mal geht es um die Mitglieder des „Clubs der Verlierer“: Sieben Freunde, die alle auf ihre Art Außenseiter sind. Und sich schließlich einem Wesen stellen müssen, das in seiner Größe und Grausamkeit selbst für King-Werke überraschend heftig ist. Allerdings gibt es auch ausreichend Zeit dazu; die Geschichte spielt hauptsächlich in zwei verschiedenen Zeitebenen (1958 und 1985), eine dritte (1929/30) wird am Rande beleuchtet. Und überall hinterlässt das Wesen seine Spuren.
Der „Meister des Horrors“, wie der Autor immer wieder gerne genannt wird, schafft es in dem Buch tatsächlich, über die leisen wie auch über die lauten direkt-ins-Gesicht-Töne, Horror zu entwickeln. In seinen übrigen Werken ist häufig eher das Zweite der Fall, noch seltener ist der Wechsel. Und „Es“ bietet sogar abseits des Horrors unterhaltsame Aspekte. Klingt alles nach einer ziemlich langen Geschichte? Ist es auch. Das kann man gut oder schlecht finden, ein paar Seiten weniger hätten dem Buch auch keinen Abbruch getan.
Charaktere
Die Ausführlichkeit wird allerdings auch für die für King-Verhältnisse recht umfangreiche Charakterzeichnung genutzt. Zwar bekommt in der Regel auch sonst jede King-Figur in seinen Büchern einen Namen und vielleicht auch einen Satz zu den aktuellen Umständen, bei den Protagonisten wird es meistens entsprechend mehr, aber sieben Helden plus den bösen Rowdy plus das mächtige Monster relativ ausführlich zu betrachten, ist für ihn meiner Meinung nach eher ungewöhnlich.
Die Guten sind dabei jetzt auch kein Paradebeispiel für außergewöhnliche Charaktere, die Gruppe ist recht klassisch zusammengesetzt: Es gibt den Dicken (Ben), den Lustigen (Richie), den Schlauen (Eddie), den Anführer (Bill) und das Mädchen (Beverly). Dazu noch den Schwarzen (Mike), der aber ein bisschen außen vor ist, und, um noch eine Minderheit zu bedienen, den Juden (Stan). Es tut mir leid, Mike und Stan auf die Religion beziehungsweise die Hautfarbe zu reduzieren, aber es ist leider bei beiden ein zentraler Aspekt. Juden-Klischees und –witze nehmen jetzt nicht überhand, aber sie sind doch präsent. Rassismus ist, auch den beiden früheren Zeitebenen geschuldet, ebenfalls immer wieder dabei.
Ein bisschen wird die klassische Darstellung dadurch aufgehoben, dass Ben auch ziemlich klug und einfühlsam ist, er liest viel und schreibt auch ein Gedicht. Das klingt jetzt wie eine platte Schlussfolgerung, ist allerdings auch nicht meine. Es ist halt immer noch eine King-Geschichte. In der 85er-Linie kommt dazu, dass Ben nicht mehr dick ist, und auch die Liebesgeschichte entwickelt sich in der späteren Zeitlinie nochmal anders als gedacht.
Alle Figuren haben, wie gesagt, mit Problemen zu kämpfen. Meistens werden sie von ihren Eltern in irgendeiner Form psychisch misshandelt, bei Beverly ist es neben physischer Gewalt auch noch sexuelle. Das Thema vertieft sich jetzt nicht großartig, ist bei ihrer Hintergrundgeschichte aber schon relevant. Bill hat mit dem Tod seines Bruders Georgie, für den er sich verantwortlich fühlt, und der darauffolgenden Vernachlässigung durch seine Eltern zu kämpfen. Der Bruder wurde übrigens von Pennywise, wie sich „Es“ gerne nennt, getötet.
Die Gruppe an Kleinstadt-Rowdys darf natürlich auch nicht fehlen. Hier erlebt man absolute Klischees. Dumme, sich schlagende, homophobe Idioten, die zu Hause ihre eigenen Probleme haben, sofern man darüber überhaupt etwas erfährt. Abheben tut sich da nur Anführer Henry, und das auch erst so richtig in der 85er-Zeitlinie. Aber er ist mit seiner Art durchaus sinnvoll für die Geschichte, also was soll’s.
Stil
Die Erzählweise ist für King unüblich, die Handlung springt nämlich zwischen den Zeiten, vieles wird in Rückblenden beschrieben. Denn die Gruppe vergisst, übersinnlich bedingt, ihre frühen Erlebnisse mit Pennywise. Lediglich Mike, der als Einziger in Derry bleibt, erinnert sich. Erst nach und nach kehrt das Wissen um die Geschehnisse von 1958 bei den anderen zurück, so entdeckt der Leser oftmals mit den Figuren, was damals wirklich geschehen ist. Wer jetzt gerade „Witcher“ liest oder gesehen hat, dem sei gesagt: So schlimm sind die Sprünge in der Zeit nicht, es ist meistens recht gut zu erkennen, in welchem Jahr sich die Geschichte gerade befindet.
Ich habe das Buch auf Deutsch gelesen, allerdings gebraucht und ohne Cover. Tommy hat mir deswegen bei dem Foto ausgeholfen, an dieser Stelle vielen Dank dafür (und sowieso an Julia für die stete Aufhübschung der Bilder)! Aufgrund der Übersetzung kann ich relativ wenig zum originalen Schreibstil sagen, die deutsche Variante ist aber ein typisches King-Buch. Solide, aber wer auf gewitzte Sätze, verzaubernde Wortspiele oder Gelegenheit zum Erweitern seines Fremdwörterschsatzes wartet, wird enttäuscht. Es geht halt mehr um den Inhalt, und der wird sehr gut transportiert. Nicht jedes Aufeinandertreffen mit Pennywise ist dabei super unheimlich, die Bedrohung sorgt aber stets für Spannung. King zeigt sich außerdem recht kreativ bei den Morden; es werden auch wirklich viele Menschen, vor allem Kinder, getötet.
Nochmal zum Inhalt
Was ganz interessant ist, sind die Lebensumstände der Kinder – sie sind 1958 um die elf Jahre alt – in dieser Zeitebene. Diskussionen darüber, was man mit wenigen Cents alles kaufen kann, wirken aus heutiger Sicht äußerst merkwürdig, auch der Umgang mit den Eltern ist, abseits der sehr unterschiedlichen Missbrauchsgeschichten, interessant zu lesen. Man weiß halt ungefähr, wie es damals war, aber mir hat der Einblick gut gefallen. Insgesamt glaube ich, dass das Buch auch ganz vernünftig gealtert ist.
Szenen, die nicht so cool sind
Zwei Sachen stören mich dann aber doch so sehr, dass ich sie explizit erwähnen muss. Dazu kommt eine dritte, die schade ist. Aber der Reihe nach.
(Hier wird gespoilert. Wenn ihr das nicht lesen wollt, springt zur nächsten Überschrift)
Am Ende driftet King ziemlich ab. Da geht es um die Unendlichkeit und eine kosmische Schildkröte. In anderen Geschichten haben solche kosmischen Schildkröten durchaus ihren Platz, bei Stephen King nicht. Punkt.
Was aber noch viel schlimmer ist, ist sein kurzer Ausfall zum Ende der 58er-Zeitlinie. Nachdem die Kinder Pennywise in den Abwasserkanälen Derrys in die Flucht geschlagen haben, irren sie durch die Rohre, um den Ausgang zu finden. Hatte die Gruppe vorher Unterstützung in Form eines kleinen übersinnlichen Powerboosts, der helfen sollte, das Monster zu besiegen, verschwindet der in diesem Moment bereits wieder. Das hat zur Folge, dass Eddie in den dunklen Verzweigungen, durch die sie stundenlang gelaufen sind, den Rückweg nicht mehr findet (Ja, es war ein krasser Boost, der so eine Orientierung vorher ermöglicht hat). Die Kinder spüren, dass ihre besondere Verbindung bereits zerbricht. Sie muss wieder hergestellt werden. Aber wie? Zum Glück hat die elfjährige Beverly, die Sexualität bislang nur in Form von Gewalt- und Machtausübung durch ihren Vater kennengelernt hat, die Idee: Sie könnte ja mit allen Jungs vögeln.
Der Absatz verdeutlicht die gedankliche Pause, die hier entstehen soll, um das sacken zu lassen. Es ist also nicht nur so, dass Sexszenen zwischen Elfjährigen wirklich nicht das sind, was ich lesen möchte (sie ist hier zwar abgekürzt, aber nicht in Gänze übersprungen worden), das Mädchen wird meiner Meinung nach auch noch zum Fickstück degradiert, obwohl die Jungs für diese Wiederherstellung der besonderen Verbindung natürlich dankbar sind. Ist klar.
Es funktioniert allerdings, Eddie kann seine Gedanken wieder auf den Rückweg fokussieren, und alle entkommen. Und ich muss zugeben: Mit dem Plottwist habe ich vor Beverlys grandioser Idee nicht gerechnet. Ich finde es nur bedauerlich, dass beim Korrektorat keiner die Eier hatte, King darauf hinzuweisen, dass das gerade Bullshit ist. Wahrscheinlich hat selbst der Praktikant sich geweigert, das Telefonat zu führen.
Immerhin: Beverly lebt 1986 zwar in einer Ehe, in der sie wieder misshandelt wird, schafft es da aber, sich handfest durchzusetzen.
Kommen wir zum dritten Punkt, den ich schade finde. Es wird in der 85er-Zeitlinie eine ganz interessante Nebenstory aufgebaut, weil sowohl Bills Frau als auch Beverlys schlagender Mann ihren Partnern hinterherreisen und sich jeweils unbemerkt in Derry ein Zimmer nehmen. Man hätte überraschende Situationen daraus schaffen können, dass der Ehemann aber einfach getötet und Bills Frau kurzzeitig als Geisel genommen wird, nur um dann auch zu sterben, ist dagegen etwas unkreativ, finde ich.
Fazit
Es ist eine wirklich spannende, gut auserzählte Horrorgeschichte, die meiner Meinung nach an der modernen allgemeinen Angst vor Clowns mitgearbeitet hat. Es gibt die King-typischen Elemente, etwa das Auftreten von Figuren aus anderen Büchern, und Szenen, bei denen man sich fragt, was zur Hölle man da gerade liest, aber insgesamt überzeugt das Buch. 3,5 von 5 Sternen.