Titel: Die Vermessung der Welt
Autor: Daniel Kehlmann
Verlag: rororo
Seitenzahl: 301
Erstveröffentlichung: 2005
Genre: Historische Fiktion, biografische Fiktion
Klappentext
Mit hintergründigem Humor schildert Daniel Kehlmann das Leben zweier Genies: Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauß. Er beschreibt ihre Sehnsüchte und Schwächen, ihre Gratwanderung zwischen Lächerlichkeit und Größe, Scheitern und Erfolg. Ein philosophischer Abenteuerroman von seltener Phantasie, Kraft und Brillanz.
Langrezi
„Die Vermessung der Welt“ war lange Zeit das Lieblingsbuch eines Freundes von mir, dennoch bin ich erst jetzt dazu gekommen, es zu lesen (weil Julia ihre Büchersammlung etwas aussortiert hat). Um es kurz und knapp zu sagen: Es war ein ganz schöner Roman, an einigen Stellen musste ich schmunzeln, an anderen habe ich sogar etwas gelernt. Mit dem letzten Satz des Klappentextes tue ich mich trotzdem ein bisschen schwer. Aber der Reihe nach.
Inhalt
Die Geschichte erzählt – die meiste Zeit parallel, später zeitweise eher fließend – die Geschichten von Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauß. Für diejenigen, die bei diesen beiden Persönlichkeiten geschichtlich nicht so ganz auf der Höhe sind: Humboldt hat zahlreiche Tier- und Pflanzenarten, vor allem aber Teile Südamerikas entdeckt. Gauß war so eine Art Universalgenie. Mathematisch sehr bewandert, später auch in der Physik und der Astronomie tätig. Für die Älteren unter euch: Er war auf dem 10-DM-Schein abgebildet.
Die Geschichte befasst sich also mit ihrer frühen Jugend, dem Versuch, den elterlichen Anforderungen gerecht zu werden und der Art und Weise, wie sie ihren Weg finden. Für Humboldt bedeutet das in erster Linie, mit dem Naturforscher Aimé Bonpland durch Südamerika zu reisen, für Gauß, Menschen zu verprellen und genial zu sein. Erst später (auch im Buch) treffen sich die beiden, freunden sich an und unterstützen einander.
Stil
Der Stil ist ganz schön, wenn auch in einem Punkt etwas gewöhnungsbedürftig: Es gibt keine wörtliche Rede, alle Dialoge werden in indirekter Rede formuliert. Dadurch ergibt sich allerdings hier und da ein trockener, fast schon tiefgründiger Humor, der mir ganz gut gefallen hat.
Ein Beispiel: Humboldt wird gebeten, während der Expedition eine Geschichte zu erzählen:
„Geschichten wisse er keine, sagte Humboldt und schob seinen Hut zurecht, den der Affe umgedreht hatte. Auch möge er das Erzählen nicht. Aber er könne das schönste deutsche Gedicht vortragen, frei ins Spanische übersetzt. Oberhalb aller Bergspitzen sei es still, in den Bäumen kein Wind zu fühlen, auch die Vögel seien ruhig, und bald werde man tot sein.
Alle sahen ihn an.
Fertig, sagte Humboldt.
Ja wie, fragte Bonpland.
Entschuldigung, sagte Julio. Das könne doch nicht alles gewesen sein.“ (S. 128) Im Folgenden verteidigt sich Humboldt, dass es keine Geschichte über Blut, Zauberei oder Tod sei, aber jeder auf dem Schiff genug zu tun habe. Dann geht es in der nächsten Stadt weiter.
Es ist, zugegeben, kein Schenkelklopfer, aber dieses Gedicht in der indirekten Rede und dann der Zusatz „Fertig“, sind mal etwas anderes, als ich es bisher gelesen habe.
Insgesamt liest sich das Buch flüssig, trotz etwas gewählterer Sprache und fehlender direkter Rede empfand ich es nicht als sperrig.
Im Übrigen habe ich mitbekommen, dass das Buch hier und da Schullektüre war. Man kann es vortrefflich nach den klassischen Regeln eines Deutsch-Oberstufen GK oder LK analysieren, ich werde aber darauf verzichten.
Charaktere
An der kleinen Szene oben wird, wie gerade schon angesprochen, auch deutlich, dass Humboldt ein schwieriger Charakter ist (zumindest in diesem Buch) und die Geschichte dies auch schonungslos aufzeigt. Er kann nicht wirklich gut mit Menschen umgehen, hält nichts von (Hetero-)Sexualität und will eigentlich immer nur forschen. Gauß kommt noch weniger mit den Menschen zurecht, scheint sie aber besser verstehen zu können. Aufgrund seiner Intelligenz antworten ihm die meisten Menschen von seinem Gefühl her viel zu langsam, außerdem kann er oftmals nicht verstehen, wieso sie auf scheinbar einfache Antworten nicht selbst kommen. Das macht den Charakter vielleicht nicht super sympathisch, aber auch er hat – nicht zuletzt dadurch – mit einigen Problemen zu kämpfen.
Überhaupt werden die Figuren sehr menschlich, oder anders ausgedrückt: mit sehr vielen Schwächen gezeigt. Neben den angesprochenen Punkten hat Humboldt eine relativ schwierige Beziehung zu seinem Bruder, Gauß hat eine sehr starke Fixierung auf seine Mutter (und eine Prostituierte). Die beiden passen nicht so ganz in die damalige Gesellschaft, ihr Ruhm hilft ihnen da später ein stückweit.
Das hindert sie nicht daran, sich scheiße zu verhalten. So gerät Gauß‘ Sohn Eugen in Berlin in Haft, weil er bei einem geheimen Treffen anwesend ist. Sein halbherziges Verhalten, den jungen Mann, zu dem er ein schwieriges Verhältnis hat, aus dem Gefängnis zu befreien, wird überhaupt nur von Humboldt befeuert und endet (vermeintlich) recht schnell wieder.
Inwieweit die Charakterbeschreibungen auf Tatsachen beruhen, kann ich nicht sagen. Eine Ausnahme ist die gerade beschriebene Situation mit Eugen, die sich wohl so nie zugetragen hat. In einem Gespräch zwischen Humboldt und seinem Bruder wird außerdem kurz angesprochen, dass ersterer homosexuell ist. Zumindest das ist laut meiner Recherche bis heute nur ein Gerücht. An dieser Stelle eine kurze Erklärung: Ich habe mir über beide Persönlichkeiten ein ganz rudimentäres Wissen im Nachgang zur Lektüre von „Die Vermessung der Welt“ angelesen.
Das hängt auch mit einem anderen Umstand zusammen: Die beiden treffen wahnsinnig viele Persönlichkeiten der damaligen Zeit. Schiller, Goethe, Kant, Jean-François Pilâtre de Rozier (einem der Luftfahrtpioniere), Kaiser, Zaren und viele viele mehr. Nicht alle Namen sagten mir etwas, nach stichprobenartiger Recherche kann ich sagen: Alle namentlich relevanten Figuren scheinen auch wirklich so gelebt und gewirkt zu haben. Das ist für mich schon eine echte Fülle an Persönlichkeiten, aber im 19. Jahrhundert hat sich die Elite wohl noch etwas mehr verbandelt.
Das ungeschönte Zeigen der Figuren wird auch bei den Nebencharakteren deutlich: Immanuel Kant ist zum Zeitpunkt des Auftretens ein alter verwirrter Mann, der zu nichts Produktivem mehr fähig ist. Als Gauß ihm seine Theorien vorstellen will, wird er nur enttäuscht. Überhaupt wirkt kaum ein namentlich bedeutender Nebencharakter sympathisch.
Das Ende
(Es wird nicht überraschen, aber: Hier finden sich Spoiler. Wenn ihr die nicht lesen wollt, springt einfach zum nächsten Kapitel weiter)
Zum Ende hin nimmt die Geschichte der beiden Männer einen eher melancholischen Ton an. Humboldt darf zwar noch einmal auf eine Expedition gehen, dieses Mal nach Russland, doch sein Gefolge ist so gewaltig und die Anweisungen der preußischen wie russischen Machthaber so strikt, dass das Erforschen in dem Sinne, wie Humboldt es einst mit Bonpland erlebt hat, praktisch nicht möglich ist. Zudem bevormunden ihn die beiden mitgereisten Forscher zunehmend; Humboldts Techniken sind veraltet, die beiden nehmen ihm eigentlich alle Aufgaben ab. Sein primärer Nutzen ist repräsentativer Natur.
Gauß derweil befasst sich immer mehr mit dem Lebensende, spürt, dass sein Verstand nicht mehr die Kraft früherer Tage hat (obwohl noch immer genial) und fragt sich, wo die Menschheit hinsteuert. Dabei gibt es eine kurze Szene vorseherischer Natur, in der er die Welt circa 200 Jahre später sieht. Auch das wäre ein schöner Ansatz für eine Analyse.
Lieblingsszene
Bevor ich zum Fazit komme, möchte ich kurz meine Lieblingsszene zitieren. Die sucht wirklich ihresgleichen.
Es geht darum, dass Gauß der Frau, in die er wohl ein wenig verknallt ist, einen schriftlichen Heiratsantrag macht. Die Antwort kommt ebenfalls per Brief: „Es habe nichts mit ihm zu tun, schrieb sie, bloß bezweifle sie, daß die Existenz an seiner Seite einem zuträglich sein könne. Sie habe den Verdacht, daß er Leben und Kraft aus den Menschen seiner Umgebung ziehe, wie die Erde von der Sonne und das Meer aus den Flüssen, daß man in seiner Nähe zur Blässe und Halbwirklichkeit eines Gespensterdaseins verurteilt sei.“
Ich glaube, dem ist nichts hinzuzufügen. Deshalb nur noch kurz die nächsten beiden Sätze: „Er nickte. Er hatte genau diese Entscheidung, wenn auch keine so gute Begründung erwartet.“ (S. 93) Das wäre auch noch ein Beispiel für den Humor des Buches.
Fazit
Ich habe ja am Anfang gesagt, dass ich mit dem letzten Satz des Klappentextes hadere. Aus meiner Sicht beschäftigt sich der Roman nur im Ansatz mit philosophischen Fragen, für einen Abenteuerroman passiert diesbezüglich ein bisschen zu wenig, ob bei der groben Nacherzählung zweier historischen Figuren trotz aller Freiheiten jetzt eine besondere Fantasie zum Tragen kommt, lasse ich mal dahingestellt. Aber es ist definitiv ein schönes Buch, und ein klein wenig Sympathie baut man zu den Figuren dann doch auf. 3,5 von 5 Sternen.