Gastbeitrag: Von Jenny
Titel: Dark Matter – Der Zeitenläufer
Autor: Blake Crouch
Verlag: Goldmann Verlag
Seitenzahl: 416
Erstveröffentlichung: 26. Juli 2016 (im englischen Original)
Genre: Sci-Fi-Thriller
Klappentext
„Bist du glücklich?“ Das sind die letzten Worte, die Jason Dessen hört, bevor ihn ein maskierter Mann niederschlägt. Als er wieder zu sich kommt, begrüßt ihn ein Fremder mit den Worten: „Willkommen zurück, alter Freund.“ Denn Jason ist in der Tat zurückgekehrt – doch nicht in sein eigenes Leben, sondern in eines, das es hätte sein können. Und in diesem Leben hat er seine Frau nie geheiratet, sein Sohn wurde nie geboren. Und Jason ist kein einfacher College-Professor, sondern ein gefeierter Wissenschaftler. Doch ist diese Welt real? Oder ist es die vergangene Welt? Wer ist sein geheimnisvoller Entführer? Und vor die Wahl gestellt – was will er wirklich vom Leben: Familie oder Karriere? Auf der Suche nach einer Antwort begibt Jason sich auf eine ebenso gefährliche wie atemberaubende Reise durch Zeit und Raum. Eine Reise, die ihn am Ende auch mit den dunklen Abgründen seiner eigenen Seele konfrontieren wird …
Langrezi
[Diese Langrezi enthält Spoiler. Wer das Buch noch lesen möchte, sollte hier aufhören.]
Der Name Blake Crouch ist vielleicht manchen ein Begriff, denn bevor er 2016 dieses Buch auf den Markt brachte, hatte er bereits 2012-2014 die „Wayward Pines“-Trilogie geschrieben, die vor ein paar Jahren sogar als TV-Serie adaptiert wurde. Da ich die Serie kenne, habe ich mich also schon vor dem Lesen auf eine Geschichte voller Eigenartigkeiten (ganz im positiven Sinne!) und Plottwists gefreut, und die Vielzahl an positiven Rezensionen haben mich auch nichts anderes erwarten lassen.
Inhalt
Der Klappentext verrät einem schon wirklich viel über das Plotgerüst:
Jason Dessen, ein Physik-Professor an einer mittelmäßigen Universität, lebt ein sehr normales, durchschnittliches Leben gemeinsam mit seiner Frau Daniela, deren Künstlerinnen-Karriere nach der Geburt des gemeinsamen Sohnes und einer anschließenden Depression im Sande verlaufen ist. Jason ist zufrieden, hängt aber dennoch regelmäßig der Frage nach, wie sein Leben wohl verlaufen wäre, wenn er sich vor fünfzehn Jahren für seine vielversprechende Karriere statt für die Familie entschieden hätte. Würde er dann heute Preise für seine Forschung erhalten, anstatt seinem ehemaligen Mitbewohner zu dessen bahnbrechenden Ergebnissen zu gratulieren?
Unerwartet bekommt er eine Antwort auf seine Frage, als er von einem Unbekannten entführt und unter Drogen gesetzt wird – denn als er das nächste Mal aufwacht, befindet er sich plötzlich in einer Realität wieder, in der er das Familienleben gegen beruflichen und wissenschaftlichen Erfolg getauscht hat.
Die Idee
Die Grundidee ist zwar auch nicht gerade neu, aber dennoch spannend, wenn sie richtig umgesetzt wird. Wer fragt sich nicht hin und wieder einmal, wie das eigene Leben aussehen würde, wenn man zu einem bestimmten Zeitpunkt eine andere Entscheidung getroffen hätte? Wäre man dann vielleicht erfolgreicher oder glücklicher? Für uns ist klar, dass wir niemals eine Antwort auf unsere Fragen bekommen, da wir den Verlauf unserer eigenen Geschichte nicht mehr ändern können – doch Jason bekommt die „Chance“, einen Einblick in ein anderes Leben zu bekommen und sich am Ende für eine der sich ihm bietenden Alternativen zu entscheiden. Das bietet zumindest theoretisch viel Potential für Selbstreflexion und eine gute Charakterentwicklung, was super ist – wenn es denn genutzt wird.
Ungenutztes Potential ist ein gutes Stichwort, denn davon hat das Buch meiner Meinung nach eine ganze Menge, und in Summe sind es vor allem meine enttäuschten Erwartungen, die übrigbleiben.
Charaktere
Meine Enttäuschung liegt zum einen an der Hauptfigur Jason, aus dessen Perspektive die Geschichte erzählt wird und zu dem ich bis zum Schluss keine wirkliche Verbindung aufbauen konnte – dazu bleibt er für meinen Geschmack zu unnahbar und in seinen Handlungen oft nicht nachvollziehbar. Generell scheinen seine Motivation (die Rückkehr zu seiner Familie) und seine Auseinandersetzung mit den verschiedenen Versionen seines Lebens fast alles zu sein, was ihn ausmacht, und sein Charakter bleibt so ziemlich eindimensional.
Überhaupt bleibt die Anzahl der zentralen Charaktere über die gesamte Geschichte sehr begrenzt: Außer Jason bleiben da eigentlich nur seine Frau Daniela, eine Frau namens Amanda (zu der ich später noch mehr sage) und sein Sohn (dessen Namen ich tatsächlich vergessen habe, so wichtig ist er), und auch aus ihnen hätte der Autor wesentlich mehr machen können. Zentrale Elemente der Charakterisierung von Jason und Daniela sind schlichtweg der jeweilige Ehepartner und verpasste Chancen in der Vergangenheit, und das war’s auch schon. Über den pubertierenden Sohn erfährt man nur Belanglosigkeiten, nur bei Amanda hat man das Gefühl, dass hinter ihrem Charakter noch ein wenig mehr steckt – leider vermurkst der Autor diesen Aspekt an anderer Stelle, zu der ich später komme.
Plot und Pacing
Das Buch braucht auch eine Weile, um wirklich Fahrt aufzunehmen, denn nach Jasons Erwachen in einer ihm fremden Welt dauert es für den Leser ermüdend lange, bis Jason annähernd begreift, was mit ihm geschehen ist. Da hilft es auch nicht, dass dem Leser ein Hinweis nach dem anderen vor die Füße geworfen wird, sodass man selbst schon zehnmal auf des Rätsels Lösung gekommen ist, während Jason noch plan- und hirnlos durch die Gegend stolpert. Für sonderlich intelligent kann ich ihn danach jedenfalls nicht mehr halten. Natürlich kann man vorhalten, dass Jason verwirrt und traumatisiert ist – das kommt im Buch aber leider nicht in dem Maße rüber, wie es vermutlich nötig wäre.
Leider wird auch eines der ältesten Klischees bedient, das die Literatur oder der Film zu bieten hat: die klassischen eiskalten Wissenschaftler, die über Leichen gehen, um ihre Forschung „zu beschützen“ (was auch immer das heißen mag), inklusive der einen Forscherin, die das nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren kann. Ohne nachvollziehbare und vor allem echte Motivation bleiben die bösen Wissenschaftler als Gegner so vollkommen blass und fast schon beliebig.
Zugegeben: Danach wird das Buch zum ersten Mal wirklich interessant, da Jason und Amanda (ebenjene Forscherin mit Gewissen) fliehen müssen und dabei eine Reise durch verschiedene Parallelwelten antreten. Das Ziel scheint klar: Jason will nach Hause zu seiner Frau und seinem Sohn, und dies führt uns leider direkt zu einem weiteren großen Kritikpunkt.
Man merkt, dass es dem Autor Spaß gemacht hat, sich die verschiedenen Welten mit all ihren kleinen oder riesigen Unterschieden auszudenken und dass er sie dem Leser zeigen möchte – wenn Jason und Amanda einen wirklichen Grund hätten, sich all diese Welten so genau anzusehen, wäre das auch vollkommen in Ordnung. Es ist auch nicht so, dass die Welten uninteressant oder schlecht ausgearbeitet wären – aber es ergibt einfach überhaupt keinen Sinn, dass Jason und Amanda eine Welt betreten, die sich in einer Eiszeit befindet oder in der eine tödliche Seuche wütet. Somit bleibt für mich beim Lesen ein fahler Beigeschmack, während die beiden sich vollkommen unnötig immer und immer wieder in Lebensgefahr begeben.
Ein positiver Aspekt der Geschichte ist die langsam aufkeimende Freundschaft zwischen Jason und Amanda, die sich während ihrer Reise durch das Multiversum mit zunehmender Verzweiflung aneinander klammern. Doch die Beziehung zwischen Jason und seiner Frau Daniela scheint für den Autor so zentral und essentiell zu sein, dass daneben kein Platz für andere Zwischenmenschlichkeiten bleibt, und so verschwindet Amanda von heute auf morgen von Jasons Seite und ward nie wieder gesehen. Da fühlt sich die investierte Zeit und das Mitfiebern mit Amandas persönlicher Geschichte schon fast verschwendet an.
Im letzten Drittel des Buchs wartet der Autor doch noch einmal mit einem richtig schönen Twist auf, wie ich finde. Gerade als ich nicht mehr daran geglaubt habe, dass die Geschichte mich noch berühren oder überraschen könnte, wurde ich positiv überrascht. Über die Details schweige ich an dieser Stelle – die Geschichte nimmt jedenfalls eine für meinen Geschmack ziemlich gruselige und auch verstörende Wendung, die mir definitiv im Gedächtnis blieben wird.
Stil
Zum Schreibstil lässt sich nicht wirklich viel sagen – er ist über weite Passagen hinweg eher schlicht und einfach gehalten, sodass man das Buch sehr leicht runterlesen kann, ohne sich großartig anzustrengen. Hin und wieder bleiben szenische Beschreibungen und Handlungen ein wenig zu einfach, und gerade dann wirkt das Buch fast schon wie die Verschriftlichung eines Films. Insgesamt wirkt der Stil oft distanziert, obwohl der Autor Jasons Geschichte aus der ersten Person schildert, und ich habe nicht das Gefühl, dass Jason wirklich eine eigene Stimme hat, die einen tieferen Einblick in seinen Charakter ermöglicht. Das ist sehr schade, da das sicherlich gegen seine Eindimensionalität geholfen hätte.
Randnotiz
Am Ende noch eine recht harsche Kritik am deutschen Verlag, der für die Übersetzung verantwortlich war: Wer kam auf die bescheuerte Idee, den Untertitel „Der Zeitenläufer“ zu nehmen, obwohl die Geschichte rein gar nichts mit Zeitreisen zu tun hat? Dass das auch noch im Klappentext aufgegriffen wird, setzt dem noch die Krone auf.
Fazit
Ich glaube, es ist nicht schwer zu erkennen, dass ich einige Probleme mit dem Buch habe und es daher auch nicht weiterempfehlen kann. Einzig die Wendung am Ende wird mir dabei positiv im Gedächtnis bleiben, viele andere Handlungsaspekte wirken dagegen fast schon unausgegoren und schlichtweg zu einfach und schlichtweg zu platt. Insgesamt ist das Buch nicht wirklich schlecht, denn interessante und gute Ansätze sind durchaus vorhanden – leider ist es auch nicht wirklich gut, da die Umsetzung der guten Ideen an vielen Stellen scheitert.
Ich vergebe zweieinhalb von fünf Sternen.